Samstag, 23. Dezember 2006

Mein Vater und der Truthahn

Die Geschichte hat sich 1971 zugetragen. Ich weiß es genau, ich war sechs und schon in der Schule, und es war das letzte Weihnachten, das wir in Idorf gefeiert haben. Im Jahr darauf sind wir umgezogen nach Sdorf, zwei Kilometer weiter, und ich galt als Reingschmeckter, wie man die Zugereisten bei uns heißt. Aber egal. Die Geschichte, die ich Euch erzähle, spielt also 1971 und ist wahr, so wahr, wie man Geschichten konservieren kann, wenn man sie als Sechsjähriger erlebt.

Ich war sechs, mein Bruder ein Dreivierteljahr alt. Meine Mutter musste daheim bleiben aus der Fabrik, seit mein Bruder auf der Welt war und ich begann zu merken, dass wir nicht reich waren. Sondern in einem feuchten Loch wohnten, mit verschimmelten Wänden, und dass im Winter der Holzofen in der Küche und der Ölofen im Wohnzimmer nicht reichten, die Bude zu wärmen.

Aber eigentlich beginnt die Geschichte von meinem Vater und dem Truthahn viel früher. Sie fängt 1945 an, als mein Vater fünf war. Sein Vater war weg, erst im Krieg, dann in Gefangenschaft. In seinem Soldbuch steht, dass er von Beruf Holzmacher war. Dabei war er Wanderarbeiter, meist Straßenpflasterer. Er teerte und pflasterte schon in den 20ern die Champs d'Elysées. Später eroberte er Frankreich. Lesen und schreiben konnte er nur wenig.

Als Großvater mein 1949 wiederkam, war er ein Gespenst. Ein müder, kranker, verlebter und abgekämpfter Mann. Er ist auch nicht alt geworden, 1956 gestorben. Mein Vater mochte seinen Vater nicht. Er hatte andere Helden, strahlendere Helden. Er hatte die Amerikaner.

Sie päppelten meinen Vater mit der Schulspeisung auf. Sie vögelten seine Tanten und gaben dem Buben Candy, damit er wegschauen solle. Später las mein Vater Tom-Mix-Heftchen, natürlich auf Deutsch. Weil Englisch lernen konnte man nicht in der Volksschule in Idorf. Und die Amis wollten ihm auch kein Englisch beibringen, sondern die Tanten vögeln.

Später machte mein Vater auf halbstark, es gibt Bilder von ihm, mit Elvis-Tolle, Cuba-Krawatte, Kippe im Mundwinkel. Man kann die Stangenbrillantine noch riechen auf den Bildern. Dann verliebten sich meine Eltern ineinander. 1961 wurde geheiratet. Weil meine Mutter erst 19 war und daher minderjährig, musste mein Vater die Heiratserlaubnis von seinem Schwiegervater abkaufen. 3000 Mark hat sie gekostet. Der Schwiegervater wollte das Geld treuhänderisch verwalten, bis meine Eltern bauen können. In Wirklichkeit hat er das Geld versoffen. Mein Vater konnte die 3000 Mark nicht bei einer Bank auftreiben, vielmehr musste er sich mit einem Knebelvertrag an seinen Arbeitgeber binden, der ihm das Geld vorstreckte. Abbezahlt hat Vater bis 1965, dann kam ich zur Welt.

Mit den Schulden und meiner Geburt hatte mein Vater ihn ausgeträumt, den Traum von Amerika. Zumindest tat er so. In Wahrheit blieb er seinem Traumbild treu. Er schaute mit Vorliebe amerikanische Filme, klaubte ein paar amerikanische Vokabeln auf, die er heute noch beharrlich falsch ausspricht, hatte sogar einen amerikanischen Freund. Einen schwarzen GI, Jack oder Bob, der nach seiner Dienstzeit hier blieb und einen Coca-Cola-Laster fuhr. Und dieser Kumpel Jack oder Bob war es, der meinem Vater einen Floh ins Ohr gesetzt hat. Einen Floh von außergewöhnlicher Dimension. Groß wie ein Truthahn.

Diesen Truthahn gäbe es in Amerika zu jedem größeren Familienfest. Er sei ein Zeichen von Wohlstand. Das waren meines Vaters Worte, als er ihn vor Weihnachten 1971 anschleppte, ein gigantisches Vieh. Und ich sah den Stolz in meines Vaters Augen.

Meine Mutter war wenig begeistert. Das merkte ich daran, dass sie meinen Vater ins Wohnzimmer zog. Ins Wohnzimmer gehen, das taten sie immer, um nicht vor mir zu streiten, aber ich hatte sie längst durchschaut. Was einfach war. Das Gekeife und Gebrüll drang durch die dünnen Wände, auch das Geheul meiner Mutter.

Auch diesmal wieder konnte ich es hören. „Wir haben kein Geld und du schleppst diesen Scheißdreck an.“ Dann mein Vater: „Es ist kein Scheißdreck, du bist Scheißdreck.“ Und so weiter, und so weiter. Bis mein Vater zornesweiß aus dem Wohnzimmer rannte und meine Mutter rotgeheult zurückließ.

Aber dann war Weihnachten. Am Morgen des ersten Weihnachtstags packte meine Mutter das Riesenvieh, das schier nicht durch die Öffnung passen wollte, in den Elektroherd. Das Mordstrumm briet und briet – und irgendwann war es fertig. Wir aßen. Mein Vater schlang, meine Mutter aß langsam. Wie sie es heute noch tun. Als wir fertig waren, konnte man an dem Vogel nur ein paar Kratzspuren feststellen. Es fehlte vielleicht eine Unterkeule und die Brust war angeschnitten.

Deshalb gab es auch am zweiten Weihnachtsfeiertag Pute. Weil das Vieh nicht in den Kühlschrank passte, hängte Vater das Gerippe danach im Dachboden auf. Jeden Tag ging Mutter nun mit dem langen Messer mit dem weißen Plastikgriff nach oben, zog die Bodenklappe herunter, klappte seufzend die Leiter auseinander und kam mit einem Stück Pute nach unten, das sie stumm zubereitete und das von Tag zu Tag trockener schmeckte. An Heiligdreikönig war es dann Vater, der nach oben ging, das Gerippe herunterholte, die letzten Fleischreste abfieselte und durch den Fleischwolf drehte. Daraus kochte Mutter eine Hackfleischsoße zu den Spaghetti.

Ich war sechs und sah meinem Vater zu, wie er die Fleischreste vom Gerippe löste. Er tat es ungerührt. Ganz normal. Und trotzdem war mir auf einmal klar, wie sehr sich mein Vater in diesem Moment als Verlierer gefühlt hat. Und wie weit weg sein Amerika war.

Frohe Weihnachten!

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