Mittwoch, 24. Mai 2006

Frau S. ist Deutschland

Die vorige Putzfrau lebt offenbar in runden Räumen, denn die Ecken des Büros hat sie grundsätzlich ignoriert. Wir haben sie immer wieder darauf angesprochen, mit Engelszungen. Irgendwann hat mein Kompagnon dann die Sekretärin einen Putzplan erstellen lassen. Daraufhin hat die Putze gekündigt.

Wir suchen also eine neue, auf Mini-Job-Basis, per Aushang in der Bäckerei nebenan. Innerhalb einer Stunde ruft die erste Bewerberin an. Junge Stimme, sächselt. Sie kommt am nächsten Tag vorbei zum Vorstellen. Wirkt zerbrechlich, ist so jung wie ihre Stimme. Stellt sich vor mit: "Ich bin Frau S.".

Frau S. sich extra schick gemacht, trägt irgendein abgeschabtes Festtagskostüm mit Pailetten. Sie nestelt aufgeregt an den Ärmeln. Sie schaut sich um, ich sage "zehn Euro die Stunde", sie sagt ja.

Am selben Abend noch kommt sie zur Putz-Premiere. Um 20 Uhr. Im Schlepptau ihre dreijährige Tochter, die Große. Die Kleine sei daheim beim Vater. Die große Dreijährige hat ein Malbuch dabei. Und einer Decke unterm Arm. Frau S. ist es sichtlich peinlich, mich noch anzutreffen. Schüchtern fragt sie, ob das Kind auf dem Sofa liegen dürfe. Welche Frage, klar darf es das. Ich unterhalte mich mit dem Mädchen, zwinkere ihm zu und sage Sachen, die man halt in dem Moment sagt: "Wie heißt du? Gehst du in den Kindergarten?" und so. Das Mädchen hat hörbar Sprachstörungen. Meine Kinder sind sechs und neun. Sie liegen abends um acht Uhr im Bett und nicht auf Bürosofas.

Meine Kinder haben keine Sprachstörungen.

Die Mutter fragt nach, wie sie Putzmittel einkaufen soll, wenn welche ausgehen. Ich zeige ihr die Kasse und den Schlüssel dazu. Sie ist verschüchtert. "Ich, den Kassenschlüssel", fragt sie mehrfach im Tonfall von "Und führe mich nicht in Versuchung". Ich merke, sie hält das Ganze für einen Test. "In der Kasse sind selten mehr als ein paar Hunderter", sage ich. "Ein paar Hundert", murmelt sie und ich merke, dass ich gerade von ihrem monatlichen Familieneinkommen rede.

Ich verabschiede mich. Anderntags ist das Büro wie ausgeschleckt, die Frau muss bis spät in die Nacht geputzt haben. Wie blöd. Auf dem Schreibtisch im Empfangssekretariat liegt ihr Stundenzettel. Viereinhalb Stunden stehen drauf. Und "Danke für die Arbeit."

Und ich? Ich habe alles richtig gemacht und dabei ein schlechtes Gewissen.

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40something - 24. Mai, 19:39

Scheissgefühl. Versuchen, dran zu denken, dass man mit der Arbeit einen Menschen sehr froh gemacht hat. Und dass es einem doch verdammt gut geht.

Stachanow - 24. Mai, 20:28

Genau das. Aber genau das erzeugt auch mein Scheißgefühl.
lxuser - 24. Mai, 22:17

Danke

für diesen Text.

Stachanow - 25. Mai, 13:55

Bitte.
kranich05 - 24. Mai, 23:41

Prima

Du hast wieder richtig gut erzählt.
Freu' Dich über das Scheißgefühl. Lebst also noch.
Ob du nicht mit Frau S., der Putze, sprechen könntest?
Im besten Fall sogar über Dein Scheißgefühl?
Glück auf!

Thaleia - 28. Mai, 15:27

Nachvollziehbar

Eine schöne Geschichte, gut erzählt. Das Gefühl dabei kann ich nachvollziehen: unsere Putzfrauen nehmen sich ihr Geld täglich aus einer extra Kasse und hinterlassen ihren Abrechnungszettel. Neulich war die Kasse aus Versehen leer. Für eine der Frauen offenbar eine mittlere Katastrophe - es war ihr sehr unangenehm, uns darauf anzusprechen und damit einzugestehen, dass sie für den heutigen Tag auf die 20 - 30 Euro einfach angewiesen ist. Irgendwie fühlt man sich schlecht.

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