Meine Jugend auf dem Dorf

Dienstag, 13. März 2007

Come on over, have some fun

Come on over, have some fun
Dancing in the morning sun.

Das wahre B******-Feeling indes resultiert aus einem Stückchen Erbrochenem, das in der Nase steckengeblieben ist.

Freitag, 23. Juni 2006

In meiner A-Jugend

In meiner Jugend auf dem Dorf gab es nur Fußballer und Nicht-Fußballer. Natürlich war ich Fußballer. Aber kein guter. Meine Ballbeherrschung ließ zu wünschen übrig. Alles, was ich als nicht-technischer Linksaußen konnte: An der Mittellinie den Ball annehmen, den Ball innen oder außen am Verteidiger vorbeispitzeln, den Abwehrspieler dann mit meinem guten Antritt überlaufen, bis zur Grundlinie rennen und eine Flanke schlagen. War die präzise, hatte ich ein Tor vorbereitet. Denn in der Mitte stand Manni, der Mittelstürmer, und brauchte nur noch den Kopf hinzuhalten. Aber beileibe nicht jede Flanke kam an.

In der C-Jugend wurde ich deshalb dagradiert und in die zweite Mannschaft verwiesen. Mit 14 machte mein Körper einen Schub in die Länge und Breite, sodass ich in der B-Jugend in die erste Mannschaft durfte, wenn auch meist nur Ersatz für die zweite Halbzeit. Als ich mit 16 in die A-Jugend kam, war ich aber wieder einer der kleineren. Und es gab keine zweite A-Jugend, in die ich hätte verwiesen werden können. Und die A-Jugend wollte unbedingt aufsteigen, in die Bezirksliga.

Ich als Linksaußen wurde deshalb lange Zeit links liegen gelassen. Im wahrsten Wortsinn. Denn ich durfte immer meine Halbzeit lang auflaufen, das war halt so. Wer ins Training kam, hatte ein Anrecht darauf. Mitspielen aber durfte ich nicht wirklich. Okay, mir den Ball zu geben war riskant, ich verstolperte den Ball öfter als andere. Trotzdem: Meine Flankenläufe kamen mitunter durch, und weil ich viel übte, wurden meine Flanken immer präziser. Nur Manni, der Mittelstürmer, stand immer seltener auf seiner Anspielposition. Weil er den Ball von mir gar nicht mehr wollte. Ich überrannte den Gegner auf einer halben Fußballplatzlänge, und von meinen Mitspielern lief keiner mehr mit.

In meinem letzten Spiel wurde ich von meinen Mitspielern kein einziges Mal angespielt. Sogar mein Gegenspieler fragte, was los sei. Als es mir einmal gelang, ihm den Ball abzuluchsen und einen Pass auf Manni zu schlagen, ließ der den Ball absichtlich ins Aus laufen, dabei gestikulierend, der Pass wäre zu ungenau gewesen.

Ich habe dann den Verein gewechselt, bin zu einer unterklassigen Mannschaft im Nachbardorf gegangen. Dort sind allen die Bälle versprungen. Aber es hat Spaß gemacht. Und keiner hat die Realität auf dem Platz mit der Realität abseits des Platzes verwechselt.

Montag, 24. April 2006

Nicht verpassen

Nicht alles war gut, früher, in den 80-ern. Zum Beispiel "Dirty Dancing". Desperate Housewifes zogen sich 1988 die schicke Bluse an, die mit den Rüschen und den extra-breiten Schülterpölstern, und stöckelten scharenweise ins Dorfkino, in dem 58 Wochen lang nichts anderes lief als dieser eine Film. Derweil hockten die kurzzeitig verlassenen Ehemänner trübsinnig vor dem Bier in der Wirtschaft.

Gingen ihre Frauen nach dem Kino noch in die Dorfdisco, bei uns hieß sie "Calypso", war die Ehe massiv gefährdet. Kundige Eintänzer konnten so manchen Aufriss landen. Ich konnte damals nicht tanzen und kann es heute noch nicht. Aber auf Rüschenblusen und deren Inhalt war ich ohnehin nie scharf.

Am kommenden Donnerstag, 27. April, kommt Dirty Dancing wieder einmal ins Fernsehen. Vox, 20.15 Uhr. Ich darf das nicht versäumen.

Dienstag, 24. Januar 2006

Früher

Als ich den Führerschein gemacht habe, zusammen mit einem Freund, sind wir nach der Fahrschule zusammen in die Bauernwirtschaft des 7.000-Seelen-Nests und haben trainingshalber ein paar Halbe geschluckt, der P. und ich. Dort haben mit der Wirtstochter gebalzt, mit bescheidenem Erfolg, weil die Mutter, eine Wittfrau, immer ein Auge auf die Schöne hatte. Das ist 22 Jahre her.

Gestern ist die Wirtin ermordet worden.

Donnerstag, 14. April 2005

Schluss

Am 8. November 1985 machte Peter das erste Mal einen ganzen Tag blau und fuhr mit der Linie 22 in die Stadt. Am Molkereistand des Stadtmarktes fraß er sich durch einen Riesenteller voll Grießbrei und ließ dem Ganzen einen Kaiserschmarren folgen. Früher hatte der Vater, wenn man zweimal im Jahr, zum Sommer- und Winterschlussverkauf, in die Stadt fuhr, die Familie auch auf den Molkereistand eingeladen. Ganz so wie daheim schmeckte es nicht, aber es war warm, klebrig, süß und gut. Dann schlenderte er los in eine Buchhandlung, um sich diesen Narziss und Goldmund zu kaufen, von dem Karen gesprochen hatte. Karen. Auch sie war warm, süß und gut.

Vor ihm trippelte eine junge Frau. Über ihren Stöckelschuhen trug sie weiß-blaue Ringelstrümpfe, dazu nachtschwarze Seidenshorts. Seidenshorts im November! Im passend zur Hose nachtschwarzgefärbten Haar, das in wilden Knicken vom Kopf abstand, steckte ein keckes Matrosenhütchen. Haare wie Sauerkraut, befand Peter abschätzig. Aber er musste zugeben: Solche Frauen kannte er bisher nur aus Duran-Duran-Videos.

Als sie die Maxstraße erreichten, bohrte sich die Sonne durch den weißen Hochnebel. Peter sog mit tiefen Zügen die Großstadtluft ein. Für seine Begriffe viel zu früh langte die Duran-Duran-Frau in ihren Blazer mit den monströsen Schulterpolstern und fingerte einen Autoschlüssel heraus. Sie stieg in einen 323er BMW mit Aichacher Nummer und fuhr mit quietschenden Reifen über das Kopfsteinpflaster auf und davon.

Peter verspürte Glückseligkeit. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass die Frauen und die Autos niemals schöner werden würden als heute, an diesem 8. November 1985. Er war in der Blüte seines Lebens angelangt. In seinem Geldbeutel steckte das dicke Bündel Geld, das er beim Schafkopfen in der Uni-Cafeteria gewonnen hatte. Die Stadt gehörte ihm. Niemals mehr würde er der von Selbstzweifeln geplagte Dorfdepp sein. Am Königsplatz ging er aufs Klo und bewunderte, während er in dem Ammoniakgestank nach Atem rang, die Graffitis an der Wand. Am Wochenende würde er versuchen, etwas mit Karen zu unternehmen. Im Kino lief die City Cobra, aber vielleicht würde sie ihn auch anderswo hinschleppen. Und wenn nicht, würde er halt heimfahren. Erst daheim etwas essen und nach der Sportschau, Bayern gegen Dortmund, eine Runde flippern im Kupferdächle.

Aber eines war ihm klar: Selbst wenn es mit Karen nicht klappen würde, selbst wenn er am Wochenende heimfahren müsste – mit dem beschränkten Dorfbauerndasein, damit war jetzt endgültig, definitiv und ein für alle Male

Schluss.

Montag, 28. März 2005

Dorfjugend, Kap. 4

Er hatte eine ganze Plattenseite und noch ein bisschen länger durchgehalten und lag nun zufrieden auf ihrem Bett. Langsam streichelte Carola seinen Arm und redete auf ihn ein. Aber Peter wollte jetzt nicht reden. Er malte sich viel lieber aus, wie er sie demnächst bei seinen Freunden einführen würde. Cool würde er über den Parkplatz staksen, die Spitzen der Cowboystiefel nach außen gestellt, wippend, federnd, leichte O-Beine. Im Schlepptau das Mädchen. Dann würde er die Tür aufreißen und rein, vorn an der Theke beim Franz zuerst zwei Kaffee bestellen und auf Zeit spielen. Schließlich kam man nicht jeden Tag mit einem neuen Mädchen an. Nach einer Weile würden die Jungs schon das übliche Riesen-Hallo anstimmen und die anzüglichen Bemerkungen krakeelen, vor denen sich die Mädchen ekelten. Dabei war das doch ein Zeichen von Wertschätzung, ein Begrüßungsritual sozusagen. Je ekelhafter die Sprüche, desto besser.

Später würden die Jung es sich zehnmal überlegen, etwas Dummes über sein Mädchen zu sagen. Ein einziges blödes Wort und man würde sich, wieder ein Ritual, unweigerlich draußen vor der Tür treffen und das Ganze mit den Fäusten austragen. Nur Feiglinge gingen nicht nach draußen. Drinnen schlägerte man nur in Ausnahmefällen und musste höllisch aufpassen, weil der Franz drinnen mit dem Stuhlbein dazwischenging, sobald die Gläser flogen. Deswegen hieß der Franz bei manchen auch Stuhlbein.

Komisch, dachte Peter, der Franz heißt Stuhlbein, aber den Schlund nennt keiner Schlumpf. Obwohl der sich nicht dagegen wehren könnte. Der Schlund hat keinen Spitznamen, ebenso wenig wie ich. Aber ich habe mich lange gegen die Semmel wehren müssen, mit dem Maul und, wenn das nichts half, mit den Fäusten. Beim Schlund kam keiner auf die Idee, ihn Schlumpf zu nennen. Nicht einmal nach dem gescheiterten Selbstmord neulich.

Weshalb der Bluna Bluna hieß, war unklar. Aber Bluna hatte auf dem Tank seiner 750er Kawa-Turbo einen Bluna-Aufkleber. Eine Weile hatte Peter gedacht, der Bluna würde deswegen so genannt, aber erst hieß der Bluna Bluna, dann kam der Aufkleber. Wie Bluna richtig hieß, wussten eigentlich nur die, die mit ihm aufgewachsen waren. Sogar sein eigner Vater nannte seinen Sohn Bluna. Das war schwer in Ordnung.

Schwer in Ordnung war für Peter auch, dass ihn alle Semmler nannten und kaum einer Peter. Peter war schlimm. Er vermutete schwer, dass seine Mutter ihn nach dem Peter Alexander so getauft hatte. Den sah sie gern im Fernsehen. Wenn er irgendwas dahersang, so einen Scheißdreck wie "Das waren nur die Beine von Dolores" stand sie am Bügelbrett, sang mit und wiegte kokett mit den breiten Hüften. Dazu schaute sie lächelnd in die Richtung von Peters Vater, der auf dem Sofa hockte und still sein Feierabendbier trank. War der Alte normal drauf, antwortete er mit einem Knurren. Aber mit dem richtigen Quantum Bier sang er zurück und zwinkerte läppisch mit den Augen. Heilige Scheiße, war das peinlich.

Peter schüttelte sich. Carola hörte auf, seinen Arm zu streicheln und fragte: Peter, was denkst du. Ach nichts, sagte er und wünschte sich, sie würde ihn einfach weiterstreicheln. Aber Carola schaute ihn immer noch fragend an. Sag was, Peter, sagte sie. Und weil ihm nichts anderes einfiel, fing er an, sie zu streicheln. Nach einer Weile fragte er sie, ob sie später noch mitginge, ins Kupferdächle.

Zu den Proleten, fragte sie. Ja, klar, sagte er. Sie sagte: Mensch Peter, du gehst doch aufs Gymi. Und er sagte: Was hat das damit zu tun. Weil sie ihm keine Antwort gab, fragte er nach einer Weile: Gehst du noch mit? Und sie sagte: Wenn’s denn sein muss und verdrehte dazu die Augen, wie es Mädchen tun, wenn sie keine Lust zu etwas haben. Da sagte er nichts mehr.

Und er hoffte, sie würde ihn bald Semmler nennen.

Sonntag, 27. März 2005

Über dieses Buch

Der Ort der Handlung ist autobiografisch. Und die Handlung selbst? Das ist mein erster Roman. Ich tue mir schwer mit der Fiktion. Ganz offensichtlich besitze ich nicht genügend Fantasie, um Geschichten zu erfinden, die auch nur im mindesten mit der Skurrilität der damals wirklich passierten Geschichten mithalten könnten. Die meisten Geschichten in diesem Buch sind passiert. Aber eben doch nicht ganz so, wie hier niedergeschrieben. Denn die Charaktere sind Fiktion. Ehrlich. Es hat keinen Zweck, mit diesem Buch die Käffer zwischen Ulm und Augsburg abzugrasen, um die Überlebenden zu finden oder die Toten auf den Friedhöfen. Wer aber über die Friedhöfe gehen will, sollte die Gräber derjenigen zählen, die Mitte der 60er geboren wurden und Mitte der 80er ihr Leben wieder ließen. Und wer das tut, der wird erkennen, dass ich in dem Buch nicht lüge.

Klappentext

Eine Dorfjugend, irgendwann Mitte der 80er Jahre, irgendwo im namenlosen Niemandsland zwischen Ulm und Augsburg. Es ist tatsächlich so. Die Landschaft dort hat keinen Namen. Mittelschwaben ist kein Name. Der Ort der Handlung ist autobiografisch. Aber es hätte genauso gut das Allgäu sein können oder Niederbayern oder ein Stück Unterfranken. Die Geschichten dieses Buches hätten in jedem Landstrich spielen können, der räumlich weiter als 30 Kilometer von einer Stadt entfernt ist und dadurch Lichtjahre im Geiste.

Das Leben der Burschen, die sich allabendlich im Kupferdächle treffen, kreist um Autos und Motorräder, Alkohol und Mädchen. Und um Freiheit.

Wobei Freiheit bloß ein anderer Name ist für Autos und Motorräder, Alkohol und Mädchen.

Dorfjugend, Kap. 3

Das Leben steckt voller Gefahren.

Dessen wurde sich Semmler Peter urplötzlich bewusst, als er mit Carola in ihrem Zimmer saß und aus einem Tee-Service aus unglasierter Terrakotta Tee mit Wildkirscharoma eingeschenkt bekam. In der Ecke stand der Sony-Turm. Zuhause hatte er nur eine Kompaktanlage von Schneider, aber er hatte ihr eine Musik-Cassette aufgenommen und Carola spielte sie ab. Immer einen Song lang knutschen, dann einen Song lang Tee trinken und reden. Das waren die Regeln von Carola. Peter mochte Carola.

Richtig verliebt war er nicht. Oder doch. Nicht in Carola, sondern in Ulrike aus seinem Abiturjahrgang. Aber Ulrike ging erstens nicht ins Kupferdächle oder später ins Tropical Dream, sondern ins Pane e Vino und dann ins Blue Moon. Und zweitens ging sie mit Stefan Hochstädter. Mit dem gehörte sie zur Karottenjeans- und V-Pullunder-Fraktion, im Winter trugen die allesamt den Ski-Anorak von Salewa in Feuerrot, während Peter zur Jeans-Bundeswehrparka-mit-herausgetrenntem-Schwarz-Rot-Gold-Schildchen-Clique gehörte. Neben diesen zwei großen Gruppen gab es an der Schule etliche mit Stoffhosen. Die wurden von allen links liegen gelassen und gingen dafür geschlossen in den Arbeitskreis EDV und den Physik-LK und lachten über Scherze, über die sonst keiner lachte. Zuletzt waren in der Abiturklasse etliche blasse Mädchen mit selbergestrickten Pullis und guten Noten und dazu zwei, drei Punkies, die keiner verstand, weil die Jungs absichtlich schwächlich rüberkommen wollten. Und dann gab es seit der Elften noch Jörn. Sein Vater war als Offizier aus Norddeutschland hierher an den Standort gekommen, und aus Protest gegen seinen Alten war Jörn auf jedem Kirchentag und ging mit lila Halstuch, Kaftan und Fusselbart zur Schule. Jörn knutschte mit der Heide aus der Elften und war also trotz lila Halstuch nicht schwul.

Während Peter mit Carola knutschte, dachte er an Jörn und die anderen in der Schule. Das tat er, um sich abzulenken und eben nicht zu versuchen, an Carola herumzufingern. Vorschnelles Fingern führte in der Regel dazu, dass man erst beschimpft wurde, dann rausflog und zuletzt bei den Freundinnen angeschwärzt wurde. Das war das dümmste, was einem passieren konnte. Hatte man es sich mit drei, vier Mädchencliquen erst einmal verschissen, nahmen die Chancen, in der näheren Umgebung zum Stich zu kommen, rapide ab. Das wusste Peter bereits seit einigen Jahren. Dann also lieber noch einmal ein halbes Stündchen warten.

Das Band hatten sie schon dreimal umgedreht. Allmählich stieg in Peter ein neuer Wunsch auf. Der Wildkirschtee suchte Auslass. Aber wenn er jetzt aufstünde und fragte, wo das Klo ist – würde das nicht seine Chancen zunichte machen? Mädchen waren da manchmal komisch. Dann lieber nochmals an die Schule denken. Oder noch besser: an die Kumpels aus dem Kupferdächle. Beim Biertrinken am Baggersee veranstalteten sie regelmäßig ein Weitschiffen. Meist gewann Uwe.

Carola stand auf. Muss mal aufs Klo, flüsterte sie, küsste ihn aufs Ohrläppchen und huschte aus dem Jugendzimmer, in dem Peter jetzt die Blicke über Stofftiere und Schwarz-Weiß-Poster von Reifen tragenden Bodybuildern mit Schlonz im Haar schweifen ließ und mit seinem Harndrang kämpfte. Und seiner Wut.

Denn jetzt war es ganz aus. Er würde ihr sagen müssen, dass er auch schiffen müsste, würde aufs Klo gehen und dort ihren Furz aufatmen müssen. Sie würde sich schämen und nicht mit ihm schlafen. So würde es kommen.

Oder noch schlimmer. Es dauerte eine Weile, ehe er die Spülung rauschen hörte. Sie war also beim Scheißen gewesen. Nie und nimmer würde Carola heute mit ihrem frisch verschissenen Arsch mit ihm schlafen. Nie und nimmer. Und wenn heute nicht, dann nie mehr. Und es war wichtig, über den Winter ein Mädchen zu haben. Im Sommer ging das besser mit den Mädchen, aber im Winter war es fast aussichtslos, eine neue aufzureißen.

Als Carola wiederkam, rappelte Peter sich auf. Muss auch mal, murmelte er und stolperte dann ungeschickt aus der Tür in die Richtung, aus der er das Rauschen gehört hatte. Dort ließ er es laufen und schnupperte in die Luft. Wie können Mädchen geruchlos scheißen, fragte er sich. Mädchen sind wie Elfen. Sie riechen immer gut und können geruchlos scheißen. Er dagegen roch die Schärfe des Urins und seinen Schweiß. Obwohl er sich doch vorher eigens geduscht hatte. Ausgiebig wusch er sich wenigstens die Hände.

Als er zurückkam ins Jugendzimmer, hatte Carola eine neue Platte aufgelegt und lag jetzt halb zugedeckt auf dem Bett. Du warst lang aus, sagte sie und Peter versuchte einen Scherz, indem er sagte, dein Tee treibt schlimmer als fünf Halbe Weizenbier. Aber jetzt komm her, sagte sie. Peter erkannte auf einmal die Musik, Julia von Pavlov’s Dog. Fickmusik. Er wusste: Sie wollte jetzt ficken. Sie sagte: Ich habe meine Tage. Der Tampon ist schon raus, vorhin, auf dem Klo. Mach schnell, sonst saut das alles ein. Und Peter war sehr dankbar, als er erkannte, dass Frauen auch schlecht riechen können und so unkompliziert wie Kumpels sein. Beinahe wenigstens.

Sonntag, 20. März 2005

Dorfjugend, Kap. 1 und 2

Werner Kasten hatte mit 18 schon schlechte Zähne. In den meisten seiner Backenzähne glänzten dicke Silberplomben, die ihm der Doktor Maier aus Westerheim gesetzt hatte. Vor einem Jahr, bei dem Diskoabend im Wasserburger Sportheim, war er im Suff beim Schiffen umgefallen und kopfüber in den Erlenbach hinein. Dabei war er mit dem Gesicht auf einen Stein geschlagen. Als er nass und halb erfroren wieder in die Gaststube des Sportheims tappte, der Batida-Charly hatte gerade Lady Starlight von den Scorpions aufgelegt und die Jungs, die noch stehen konnten, hielten ihre Mädchen eng umschlungen, hingen aus den Stümpfen seiner oberen Schneidezähne die Nervenenden heraus. Doktor Maier machte ihm ein Gebiss. Durch diese Geschichte wurde Werner Kasten in Wasserburg und Umgebung zur Legende.

Aber im Moment hatte Werner Kasten andere Sorgen. Warum er an seine Zähne dachte, wusste er nicht. Doch, als er mit der Zunge über das Gebiss rutschen wollte, fiel es ihm wieder ein. Er vermisste er die gewohnte Oberfläche aus Gold und Porzellan. Bestimmt waren seine falschen Zähne im Auto. Gut hundert Meter weit war er schon gekrochen, von dem Wrack, das da unten im Dunkeln lag, zurück auf die Straße. Er konnte die Autos schon gut hören, das Motorgeräusch und das Singen der Reifen auf der nassen Straße. Die letzten Nachtschwärmer kamen zurück aus dem Tropical Dream. Wenn er die steile Böschung schaffen würde, würde er bald im Krankenhaus sein und die Ärzte würden ihn wieder zusammenflicken und der Doktor Maier würde ihm ein neues Gebiss bauen und alles wäre wie immer. Scheiße. Schon zum dritten Mal rutschte er ab. Sein Bauch tat noch mehr weh als die ausgeschlagenen Eckzähne, an denen früher die Brücke gehangen hatte. Sisyphosarbeit würde dazu der siebengescheite Semmler Peter sagen. Der ging in der Kreisstadt auf das Gymnasium und spielte aber trotzdem mit in der A-Jugend des Fußballvereins, weil er ein Arbeiterkind war. Der Malerlehrling Kasten Werner Ausputzer, der Oberschulbub Semmler Peter Linksaußen. Werner Kasten würde über Sisyphos sagen: Den gestinkerten Griech kenne ich nicht, der hat mir noch kein Weizen gezahlt.

In dieser Nacht lernte Werner Kasten nicht nur den Sisyphos kennen, sondern auch den Kollegen Tantalos. Als man seine Leiche am nächsten morgen anderthalb Meter unterhalb der rettenden Straße fand, war die Erde in seiner Reichweite tief und blutig zerwühlt. Die Polizei verschwieg der verzweifelten Mutter die abgerissenen Nägel und dass an beiden Händen die ersten Glieder der Zeige- und Mittelfinger fehlten.

Die Beerdigung fand am 16. November 1984 statt. Der Sarg blieb zu.



Während Werner Kasten sein Leben aushauchte, regte sich in Susi Niedermeyers Bauch neues.

Sie hatte mit Marko Schlund geschlafen. Oder, wie er es seinen Kumpeln sagen würde: Er hatte sie gestopft. Susi mochte Marko. Er war sehnig, schlank und braungebrannt und im Sommer, im Freibad sahen die Hausfrauen der Susi und dem Marko immer ein wenig neidisch hinterher. Marko hatte wenig Pickel, aber bloß ein Mofa. Aber das machte nichts, denn bald würde er ausgelernt haben und sein Lehrherr würde ihn übernehmen. Schlosser beim Landmaschinen Hämmerle, das war die Aussicht auf mehr Geld, wenigstens nach dem Bund, und auf einen Urlaub. Vielleicht in Jugoslawien oder sogar am Gardasee.

Susi mochte es, wenn Marko mit ihr schlief. Er tat es zwar schnell, aber er war nicht grob. Und er fingerte sie sogar vorher ganz gern. Marko war besser im Bett als ihr Ex, der Spahnling Holger, genannt Hobel. Wegen Spahnling. Spahnling, Hobel, passt doch, guter Witz, ein Brüller. Der Hobel hatte seinen Kumpels über ihren Gesichtsausdruck beim Sex erzählt und ihr eine hineingehauen, als sie ihn einmal spaßeshalber beim Küssen leicht in die Zunge gebissen hatte. Und: Marko soff weniger als Hobel.

Wenigstens normalerweise. Heute nicht. Heute hatte sie es ihm gesagt, dass der Schwangerschaftstest positiv war. Marko war wortlos weggelaufen, erst zu den Schrebergärtnern in der Salatbar, wo das Halbe Lammbräu fünfzig Pfennig kostete. Um sechs, als das Kupferdächle öffnete, war es Zeit, mit vier Halbe im Leib die Salatbar und das blöde Geschwätz der alten Knacker, Flüchtlinge aus dem Sudetenland, hinter sich zu lassen.

Im Kupferdächle erklärte auf der Mattscheibe über der Theke Lee van Cleef gerade der Klapperschlange Kurt Russel, wie der Präsident zu retten sei, als Marko sein sechstes Pils leerte. Warsteiner. Schon etwas anderes als Lammbräu, aber der Geschmack des Bieres war nebensächlich. In Marko reifte ein Entschluss.

Ich bring mich um.

Zuerst murmelnd, dann lauter vor sich hersagend, dann schreiend: Ich bring mich um. Ich bring mich um. Ich bring mich um.

Franz, der Wirt sagte: He, Schlund, schrei hier nicht rum. Und der Hagner Erwin sagte: Lass ihn, er will sich umbringen. Ja, schrie der Schlund Marko, ja, ich bring mich um. Und der Wirt sagte: Jetzt schreit der schon wieder. Und der Seybold Harry fragte: Wie?

Da schwiegen alle. Was wie?

Ja, wie! Wie will er sich umbringen?
Da schrie der Schlund Marko: Ich fahre an den Baum!

Der Seybold Harry sagte: Du hast aber kein Auto. Meins kriegst Du nicht für so einen Scheiß. Jetzt lachten alle, sogar der Franz, der wegen des Geschreis schon um seine Gäste bangte, weil in letzter Zeit machte er einen auf seriös. Er hatte sich sogar einen Videorecorder angeschafft zur Unterhaltung seiner Gäste.

Es dauert eine Weile, dann brüllt der Schlund Marko triumphierend: Aber mein Mofa fährt 70! Und rennt aus der Gaststube. Der Hagner Erwin und der Seybold Harry, der Hobel, der blaue Klaus, der Semmler Peter, der Hofstätter Manne und noch ein paar, die hinten am Billard standen, alle rennen hinterher. Sogar Franz hört mit dem Abtrocknen der Warsteiner-Gläser auf, zuckt mit den Achseln und geht nach draußen. Dort haben sich inzwischen die Burschen im Halbrund neben der großen Birke aufgestellt. Am anderen Ende des Parkplatzes steht Marko in Position. Hobel schreit ihm zu: He, pass auf! Vor der Birke kommt ein Randstein!

Aber da hat der Schlund Marko das Zündapp-Mofa schon angekurbelt und den ersten Gang eingelegt. Zweiter Gang. Vollgas. Tränen laufen über sein Gesicht. Er wird es schaffen. An Susi denkt er nicht mehr. Ich werde es schaffen. Ich werde tot sein. Jawoll, im nächsten Moment werde ich tot sein.

Drüben sagt der Klaus Neller, der blaue Klaus, leise zu seinen Kumpeln: Kein Mensch kann sich mit einem Mofa totfahren, oder? Seybold Harry sagt laut: Das sehen wir jetzt gleich. Die anderen sagen nichts mehr.

Schlund rauscht näher. Das Vorderrad knallt gegen den Randstein. Im hohen Bogen fliegt er vom Mofa auf den Teer. Jetzt heult er, vor Schmerz und vor Wut, weil alle lachen. Und rennt mit gesenktem Kopf gegen den Baum. Einmal, zweimal, dreimal. Mittendrin in dem Spektakel rollt der Wiesner Michel auf dem Parkplatz, mit seinem Drei-Liter-Monza mit den 245er Rädern hinten dran und und 225ern vorne und fragt: Was ist denn hier los? Der Seybold Harry antwortet: Der Schlund bringt sich um. Da sagt der Wiesner: Jetzt ist aber Schluss, Schlund, sonst muss ich dir eine reinhauen.

Okay, sagt der.

Hobel drückt ihm ein Taschentuch auf seine Platzwunde. Alle gehen rein zum Flippern. Der Seybold Harry gibt dem Marko ein siebtes Pils aus, der kühlt seine aufgeschürften Handflächen am Bierglas und lächelt schon wieder. Der Wiesner Michel mit dem schwarzen Drei-Liter-Monza mit den 245er Rädern und dem John-Player-Specials-Aufkleber stellt am Pin-Bot mit über 13 Millionen einen neuen High-Score auf. Buck Rogers war trotzdem besser, meint er, während auf der Mattscheibe des Fernsehers die Klapperschlage sagt:

Mein Name ist Plissken.

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