Sonntag, 25. Februar 2007

Wie Hans Eichel im Jahr 2001 meine Ehe rettete

Frau geheiratet. Haus gebaut. Kinder gezeugt. Nabelschnüre durchschnitten. Bücher geschrieben. Bäume gepflanzt. Unternehmen gegründet. Leute eingestellt. Leute gefeuert. Und das mit Mitte 30.

Stachanow, ist das wirklich alles? Beginnt jetzt der Lebensabend? Die Frage, ob Du verspießerst, Stachanow, ist keine. Es geht nur darum, wann sie einsetzt, die Verspießerung, und wie arg sie dich packt. Oder wie arg du dich packen lässt. Darum, Stachanow, überlege genau, ob das Haus, die Kinder, die Nabelschnüre, Bücher, Bäume, Firmen – ob das ganze Zeug wirklich alles ist.

Und das ständig. Permanent. Jede Minute. Die Midlife-Crisis packte mich im Jahr 2000 so heftig, dass ich, um einmal nicht daran zu denken, ob „das wirklich alles“ ist, mit dem Motorrad auf die Autobahn ging. Mit 260 Sachen zum nächsten Autobahnkreuz und dann immer rechts abbiegen. Rechts weg Richtung Ulm, rechts weg Richtung Nürnberg, wieder rechts weg Richtung Kassel, dann rechts weg Richtung Frankfurt, rechts weg Richtung Ulm. Nach der zweiten Runde setzte das Knie auf dem Boden auf und während der Hinterreifen zu radieren begann, waren sie wegradiert, die Gedanken, ob das alles sei. Dafür brüllte ich in den Helm, erst vor Angst und dann vor Vergnügen.

Trotz dieser Rosskur hätte es sicher nicht lang gedauert, bis ich einer Praktikantin nachgestellt hätte. Die Momente der Angst auf dem Motorrad waren kurz, die Abende in der Firma dagegen lang. Immer und ständig dieses „Ist das alles?“ im Ohr. Furchtbar.

Die Firma machte viel Arbeit, lief aber schon zwei Jahre nach der Gründung von allein. Sechs Leute an Bord, die neuen Aufträge kamen schneller, als wir den Bestand abarbeiten konnten. Das war ehrlich gesagt auch kein großes Wunder. Schließlich war es das Jahr 2000 und die New Economy legte sich nochmals richtig ins Zeug. Obwohl wir damals nur in ganz geringem Maße für Venture-Capital-Geber und Venture-Capital-finanzierte Firmen gearbeitet hatten, mehr oder weniger aus Zufall, profitierten auch wir davon, wie die New-Eco-Buden mit dem Geld um sich warfen. Die Old-Eco-Buden wollten da nicht hintanstehen und warfen ebenfalls dicke mit den Jobs um sich. Je blöder die Idee, desto bereitwilliger stellten die Marketing-Leute dicke Summen zur Verfügung. Tanzende Drag Queens auf der Logistikmesse? Geil! Bergwandern mit drei Journalisten mittelmäßigster Kleinauflagenfachblätter auf Mallorca? Super Idee! Ein blödsinniger Printnewsletter in Tausenderauflage, um einen noch blödsinnigeren und daher mit vier Abonnenten vor sich hindümpelnden E-Mail-Newsletter zu bewerben? Sensationell!

Die Firma verdiente damit Geld. Wie es halt so ist, musste dieses Geld versteuert werden. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Weil meine Firma auch Druckjobs eben dieser Printnewsletter abwickelte und Anzeigen schaltete, Medienkooperationen (der Euphemismus für Schleichwerbung) eintütete und so weiter, war die Firma ein Gewerbebetrieb. Das war damals noch richtig schlecht. Heute wird die Gewerbesteuer mehr oder minder von der Ertragsteuer der Firma abgezogen. Damals war die Gewerbesteuer nur eine Geschäftsausgabe. Man konnte die Gewerbesteuer also nur von der Ertragsteuer absetzen.

Aber egal wie rum, mir machte das nichts. Denn im Jahr 1998, bei der Gründung der ersten Firma, der Agentur, hatte ich ja gleich auch meine zweite Firma aufgemacht. Ein Redaktionsbüro. Rein freiberuflich, versteht sich, und daher auch nicht gewerbesteuerpflichtig. Dieses Redaktionsbüro schrieb fleißig Rechnungen an die Agentur, damit deren Gewinnhöhe immer schön unter dem Gewerbesteuerfreibetrag blieb. Herrliches Wort übrigens, Gewerbesteuerfreibetrag. Was man mit 23 Buchstaben alles machen kann.

Nun denn, so lief das Geschäft 1998, 1999 und 2000 ganz prima, und mein Leben hätte es auch, tun können, wäre da nicht immer das „Ist das alles?“ gewesen. Obwohl ich mir daheim wenig anmerken lassen wollte, litt meine Frau mit. Sie ist ja meine Frau und damit nicht doof. Meist litt sie still, manchmal aber entlud sich ihre Frustration über meine Frustration in heftigen Eruptionen. Rückblickend zweifle ich, ob das das noch lange gutgegangen wäre.

Dann kam das Jahr 2001. Die New Economy kackte ab, die Geschäfte liefen immer noch ordentlich, brauchten aber ein bisschen mehr Aufmerksamkeit. Deshalb ließ das „Ist das alles?“ ein klein wenig nach. Aber nur ein bisschen.

Eines Tages im Sommer 2001, lag er dann im Briefkasten. Ein Umschlag aus Recyclingpapier, DIN lang. Vom Finanzamt. Drüber stand: Steuerbescheid. Daneben: Bearbeiter: Hans Eichels Handlanger. Drunter dann: 100.000 Mark Gewerbesteuer rückwirkend für drei Jahre und als Vorauszahlung für 2001. Zahlbar in 14 Tagen. Dieses Schreiben ist maschinell erstellt und daher ohne Unterschrift gültig. Bitte nehmen Sie von Rückfragen Abstand. Ganz ohne MFG. Und tschüß.

Ich eile zum Steuerberater, der sagt was von Infektionstheorie und Grundsatzurteilen zur Unternehmensgruppe. Ist ein Teil gewerblich und damit gewerbesteuerpflichtig, ist es der andere Teil auch. Dann sagt er was von Rechenfehler. Gewerbesteuer 1998 mindert Gewinn 1999 und damit Gewerbesteuer 1999, die ihrerseits Gewinn 2000 mindert und damit Gewerbesteuer 2000, die ihrerseits Gewinn 2001 mindert und damit Gewerbesteuer 2001. Macht also nicht 100.000 Mark, sondern nur 65.000. Dann fragt er: Macht Ihre Bank da mit? Und ich frage zurück, dass ich mich das auch gerade frage. Mit dem Häuschen als Pfand bestimmt, sagt der Steuerberater, und lehnt sich zufrieden zurück, weil er jetzt denkt, dass ich seine Rechnung bezahlen werde. Die Bank hat mitgemacht, und auf einmal stand ich 60.000 Mark in der Kreide. Bei einem Kontokorrent in selber Höhe. Und einer Verpfändungserklärung fürs Haus gegenüber der Bank.

Von da an lief das Geschäft immer schlechter. Aufträge, die früher von allein kamen, mussten mit viel Trara akquiriert werden. Die Außenstände wuchsen, weil die Kunden immer schlechter bezahlten, bis hin zum kompletten Zahlungsausfall durch Insolvenz. Mein Geschäftsführergehalt musste ich reduzieren und erzählte meiner Frau, dass wir das schon über Gewinnentnahmen hinkriegen würden. Bloß, dass da am Jahresende kein Gewinn mehr war. Aber ich habe keinen meiner Leute entlassen müssen. Alle haben zusammengeholfen. Und außerdem ging es mir gut. Seit dem Tag, an dem das schmuddelige Recyclingpapierkuvert von Hans Eichel in meinem Briefkasten lag, hatte ich echte Sorgen. Und auf einmal war es wie weggewischt, dieses „Ist das alles?“

Meine Kinder freuten sich abens an ihrem Vater. Ich freute mich an meiner Familie und an den Bäumen, die ich gepflanzt hatte und an dem gekauften Haus. An freien Sommertagen lag im Garten und las. Im Winter legte ich mich vor den Kaminofen und las. Lesen kostet nichts, das Geld war knapp. An anderen Tagen ging ich in meine Firma, die ich auf einmal auch mehr mochte.

Meine Frau freute sich wieder, mich zu sehen, weil ich es nötig hatte, gestreichelt zu werden und meinen vollen Kopf bei ihr auszuleeren. Gut, das Geld wurde knapp. Dafür schliefen wir öfter miteinander, fast so oft wie am Anfang, als wir uns kennengelernt hatten. Sex kostet ja nichts. Und manchmal dachte ich an Hans Eichel. Zum Glück nicht während des Fickens, sondern danach, vor dem Einschlafen, und ich war ihm ein klein wenig dankbar dafür. Dass er meine Ehe gerettet hat.

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