Dorfjugend, Kap. 1 und 2
Werner Kasten hatte mit 18 schon schlechte Zähne. In den meisten seiner Backenzähne glänzten dicke Silberplomben, die ihm der Doktor Maier aus Westerheim gesetzt hatte. Vor einem Jahr, bei dem Diskoabend im Wasserburger Sportheim, war er im Suff beim Schiffen umgefallen und kopfüber in den Erlenbach hinein. Dabei war er mit dem Gesicht auf einen Stein geschlagen. Als er nass und halb erfroren wieder in die Gaststube des Sportheims tappte, der Batida-Charly hatte gerade Lady Starlight von den Scorpions aufgelegt und die Jungs, die noch stehen konnten, hielten ihre Mädchen eng umschlungen, hingen aus den Stümpfen seiner oberen Schneidezähne die Nervenenden heraus. Doktor Maier machte ihm ein Gebiss. Durch diese Geschichte wurde Werner Kasten in Wasserburg und Umgebung zur Legende.
Aber im Moment hatte Werner Kasten andere Sorgen. Warum er an seine Zähne dachte, wusste er nicht. Doch, als er mit der Zunge über das Gebiss rutschen wollte, fiel es ihm wieder ein. Er vermisste er die gewohnte Oberfläche aus Gold und Porzellan. Bestimmt waren seine falschen Zähne im Auto. Gut hundert Meter weit war er schon gekrochen, von dem Wrack, das da unten im Dunkeln lag, zurück auf die Straße. Er konnte die Autos schon gut hören, das Motorgeräusch und das Singen der Reifen auf der nassen Straße. Die letzten Nachtschwärmer kamen zurück aus dem Tropical Dream. Wenn er die steile Böschung schaffen würde, würde er bald im Krankenhaus sein und die Ärzte würden ihn wieder zusammenflicken und der Doktor Maier würde ihm ein neues Gebiss bauen und alles wäre wie immer. Scheiße. Schon zum dritten Mal rutschte er ab. Sein Bauch tat noch mehr weh als die ausgeschlagenen Eckzähne, an denen früher die Brücke gehangen hatte. Sisyphosarbeit würde dazu der siebengescheite Semmler Peter sagen. Der ging in der Kreisstadt auf das Gymnasium und spielte aber trotzdem mit in der A-Jugend des Fußballvereins, weil er ein Arbeiterkind war. Der Malerlehrling Kasten Werner Ausputzer, der Oberschulbub Semmler Peter Linksaußen. Werner Kasten würde über Sisyphos sagen: Den gestinkerten Griech kenne ich nicht, der hat mir noch kein Weizen gezahlt.
In dieser Nacht lernte Werner Kasten nicht nur den Sisyphos kennen, sondern auch den Kollegen Tantalos. Als man seine Leiche am nächsten morgen anderthalb Meter unterhalb der rettenden Straße fand, war die Erde in seiner Reichweite tief und blutig zerwühlt. Die Polizei verschwieg der verzweifelten Mutter die abgerissenen Nägel und dass an beiden Händen die ersten Glieder der Zeige- und Mittelfinger fehlten.
Die Beerdigung fand am 16. November 1984 statt. Der Sarg blieb zu.
Während Werner Kasten sein Leben aushauchte, regte sich in Susi Niedermeyers Bauch neues.
Sie hatte mit Marko Schlund geschlafen. Oder, wie er es seinen Kumpeln sagen würde: Er hatte sie gestopft. Susi mochte Marko. Er war sehnig, schlank und braungebrannt und im Sommer, im Freibad sahen die Hausfrauen der Susi und dem Marko immer ein wenig neidisch hinterher. Marko hatte wenig Pickel, aber bloß ein Mofa. Aber das machte nichts, denn bald würde er ausgelernt haben und sein Lehrherr würde ihn übernehmen. Schlosser beim Landmaschinen Hämmerle, das war die Aussicht auf mehr Geld, wenigstens nach dem Bund, und auf einen Urlaub. Vielleicht in Jugoslawien oder sogar am Gardasee.
Susi mochte es, wenn Marko mit ihr schlief. Er tat es zwar schnell, aber er war nicht grob. Und er fingerte sie sogar vorher ganz gern. Marko war besser im Bett als ihr Ex, der Spahnling Holger, genannt Hobel. Wegen Spahnling. Spahnling, Hobel, passt doch, guter Witz, ein Brüller. Der Hobel hatte seinen Kumpels über ihren Gesichtsausdruck beim Sex erzählt und ihr eine hineingehauen, als sie ihn einmal spaßeshalber beim Küssen leicht in die Zunge gebissen hatte. Und: Marko soff weniger als Hobel.
Wenigstens normalerweise. Heute nicht. Heute hatte sie es ihm gesagt, dass der Schwangerschaftstest positiv war. Marko war wortlos weggelaufen, erst zu den Schrebergärtnern in der Salatbar, wo das Halbe Lammbräu fünfzig Pfennig kostete. Um sechs, als das Kupferdächle öffnete, war es Zeit, mit vier Halbe im Leib die Salatbar und das blöde Geschwätz der alten Knacker, Flüchtlinge aus dem Sudetenland, hinter sich zu lassen.
Im Kupferdächle erklärte auf der Mattscheibe über der Theke Lee van Cleef gerade der Klapperschlange Kurt Russel, wie der Präsident zu retten sei, als Marko sein sechstes Pils leerte. Warsteiner. Schon etwas anderes als Lammbräu, aber der Geschmack des Bieres war nebensächlich. In Marko reifte ein Entschluss.
Ich bring mich um.
Zuerst murmelnd, dann lauter vor sich hersagend, dann schreiend: Ich bring mich um. Ich bring mich um. Ich bring mich um.
Franz, der Wirt sagte: He, Schlund, schrei hier nicht rum. Und der Hagner Erwin sagte: Lass ihn, er will sich umbringen. Ja, schrie der Schlund Marko, ja, ich bring mich um. Und der Wirt sagte: Jetzt schreit der schon wieder. Und der Seybold Harry fragte: Wie?
Da schwiegen alle. Was wie?
Ja, wie! Wie will er sich umbringen?
Da schrie der Schlund Marko: Ich fahre an den Baum!
Der Seybold Harry sagte: Du hast aber kein Auto. Meins kriegst Du nicht für so einen Scheiß. Jetzt lachten alle, sogar der Franz, der wegen des Geschreis schon um seine Gäste bangte, weil in letzter Zeit machte er einen auf seriös. Er hatte sich sogar einen Videorecorder angeschafft zur Unterhaltung seiner Gäste.
Es dauert eine Weile, dann brüllt der Schlund Marko triumphierend: Aber mein Mofa fährt 70! Und rennt aus der Gaststube. Der Hagner Erwin und der Seybold Harry, der Hobel, der blaue Klaus, der Semmler Peter, der Hofstätter Manne und noch ein paar, die hinten am Billard standen, alle rennen hinterher. Sogar Franz hört mit dem Abtrocknen der Warsteiner-Gläser auf, zuckt mit den Achseln und geht nach draußen. Dort haben sich inzwischen die Burschen im Halbrund neben der großen Birke aufgestellt. Am anderen Ende des Parkplatzes steht Marko in Position. Hobel schreit ihm zu: He, pass auf! Vor der Birke kommt ein Randstein!
Aber da hat der Schlund Marko das Zündapp-Mofa schon angekurbelt und den ersten Gang eingelegt. Zweiter Gang. Vollgas. Tränen laufen über sein Gesicht. Er wird es schaffen. An Susi denkt er nicht mehr. Ich werde es schaffen. Ich werde tot sein. Jawoll, im nächsten Moment werde ich tot sein.
Drüben sagt der Klaus Neller, der blaue Klaus, leise zu seinen Kumpeln: Kein Mensch kann sich mit einem Mofa totfahren, oder? Seybold Harry sagt laut: Das sehen wir jetzt gleich. Die anderen sagen nichts mehr.
Schlund rauscht näher. Das Vorderrad knallt gegen den Randstein. Im hohen Bogen fliegt er vom Mofa auf den Teer. Jetzt heult er, vor Schmerz und vor Wut, weil alle lachen. Und rennt mit gesenktem Kopf gegen den Baum. Einmal, zweimal, dreimal. Mittendrin in dem Spektakel rollt der Wiesner Michel auf dem Parkplatz, mit seinem Drei-Liter-Monza mit den 245er Rädern hinten dran und und 225ern vorne und fragt: Was ist denn hier los? Der Seybold Harry antwortet: Der Schlund bringt sich um. Da sagt der Wiesner: Jetzt ist aber Schluss, Schlund, sonst muss ich dir eine reinhauen.
Okay, sagt der.
Hobel drückt ihm ein Taschentuch auf seine Platzwunde. Alle gehen rein zum Flippern. Der Seybold Harry gibt dem Marko ein siebtes Pils aus, der kühlt seine aufgeschürften Handflächen am Bierglas und lächelt schon wieder. Der Wiesner Michel mit dem schwarzen Drei-Liter-Monza mit den 245er Rädern und dem John-Player-Specials-Aufkleber stellt am Pin-Bot mit über 13 Millionen einen neuen High-Score auf. Buck Rogers war trotzdem besser, meint er, während auf der Mattscheibe des Fernsehers die Klapperschlage sagt:
Mein Name ist Plissken.
Aber im Moment hatte Werner Kasten andere Sorgen. Warum er an seine Zähne dachte, wusste er nicht. Doch, als er mit der Zunge über das Gebiss rutschen wollte, fiel es ihm wieder ein. Er vermisste er die gewohnte Oberfläche aus Gold und Porzellan. Bestimmt waren seine falschen Zähne im Auto. Gut hundert Meter weit war er schon gekrochen, von dem Wrack, das da unten im Dunkeln lag, zurück auf die Straße. Er konnte die Autos schon gut hören, das Motorgeräusch und das Singen der Reifen auf der nassen Straße. Die letzten Nachtschwärmer kamen zurück aus dem Tropical Dream. Wenn er die steile Böschung schaffen würde, würde er bald im Krankenhaus sein und die Ärzte würden ihn wieder zusammenflicken und der Doktor Maier würde ihm ein neues Gebiss bauen und alles wäre wie immer. Scheiße. Schon zum dritten Mal rutschte er ab. Sein Bauch tat noch mehr weh als die ausgeschlagenen Eckzähne, an denen früher die Brücke gehangen hatte. Sisyphosarbeit würde dazu der siebengescheite Semmler Peter sagen. Der ging in der Kreisstadt auf das Gymnasium und spielte aber trotzdem mit in der A-Jugend des Fußballvereins, weil er ein Arbeiterkind war. Der Malerlehrling Kasten Werner Ausputzer, der Oberschulbub Semmler Peter Linksaußen. Werner Kasten würde über Sisyphos sagen: Den gestinkerten Griech kenne ich nicht, der hat mir noch kein Weizen gezahlt.
In dieser Nacht lernte Werner Kasten nicht nur den Sisyphos kennen, sondern auch den Kollegen Tantalos. Als man seine Leiche am nächsten morgen anderthalb Meter unterhalb der rettenden Straße fand, war die Erde in seiner Reichweite tief und blutig zerwühlt. Die Polizei verschwieg der verzweifelten Mutter die abgerissenen Nägel und dass an beiden Händen die ersten Glieder der Zeige- und Mittelfinger fehlten.
Die Beerdigung fand am 16. November 1984 statt. Der Sarg blieb zu.
Während Werner Kasten sein Leben aushauchte, regte sich in Susi Niedermeyers Bauch neues.
Sie hatte mit Marko Schlund geschlafen. Oder, wie er es seinen Kumpeln sagen würde: Er hatte sie gestopft. Susi mochte Marko. Er war sehnig, schlank und braungebrannt und im Sommer, im Freibad sahen die Hausfrauen der Susi und dem Marko immer ein wenig neidisch hinterher. Marko hatte wenig Pickel, aber bloß ein Mofa. Aber das machte nichts, denn bald würde er ausgelernt haben und sein Lehrherr würde ihn übernehmen. Schlosser beim Landmaschinen Hämmerle, das war die Aussicht auf mehr Geld, wenigstens nach dem Bund, und auf einen Urlaub. Vielleicht in Jugoslawien oder sogar am Gardasee.
Susi mochte es, wenn Marko mit ihr schlief. Er tat es zwar schnell, aber er war nicht grob. Und er fingerte sie sogar vorher ganz gern. Marko war besser im Bett als ihr Ex, der Spahnling Holger, genannt Hobel. Wegen Spahnling. Spahnling, Hobel, passt doch, guter Witz, ein Brüller. Der Hobel hatte seinen Kumpels über ihren Gesichtsausdruck beim Sex erzählt und ihr eine hineingehauen, als sie ihn einmal spaßeshalber beim Küssen leicht in die Zunge gebissen hatte. Und: Marko soff weniger als Hobel.
Wenigstens normalerweise. Heute nicht. Heute hatte sie es ihm gesagt, dass der Schwangerschaftstest positiv war. Marko war wortlos weggelaufen, erst zu den Schrebergärtnern in der Salatbar, wo das Halbe Lammbräu fünfzig Pfennig kostete. Um sechs, als das Kupferdächle öffnete, war es Zeit, mit vier Halbe im Leib die Salatbar und das blöde Geschwätz der alten Knacker, Flüchtlinge aus dem Sudetenland, hinter sich zu lassen.
Im Kupferdächle erklärte auf der Mattscheibe über der Theke Lee van Cleef gerade der Klapperschlange Kurt Russel, wie der Präsident zu retten sei, als Marko sein sechstes Pils leerte. Warsteiner. Schon etwas anderes als Lammbräu, aber der Geschmack des Bieres war nebensächlich. In Marko reifte ein Entschluss.
Ich bring mich um.
Zuerst murmelnd, dann lauter vor sich hersagend, dann schreiend: Ich bring mich um. Ich bring mich um. Ich bring mich um.
Franz, der Wirt sagte: He, Schlund, schrei hier nicht rum. Und der Hagner Erwin sagte: Lass ihn, er will sich umbringen. Ja, schrie der Schlund Marko, ja, ich bring mich um. Und der Wirt sagte: Jetzt schreit der schon wieder. Und der Seybold Harry fragte: Wie?
Da schwiegen alle. Was wie?
Ja, wie! Wie will er sich umbringen?
Da schrie der Schlund Marko: Ich fahre an den Baum!
Der Seybold Harry sagte: Du hast aber kein Auto. Meins kriegst Du nicht für so einen Scheiß. Jetzt lachten alle, sogar der Franz, der wegen des Geschreis schon um seine Gäste bangte, weil in letzter Zeit machte er einen auf seriös. Er hatte sich sogar einen Videorecorder angeschafft zur Unterhaltung seiner Gäste.
Es dauert eine Weile, dann brüllt der Schlund Marko triumphierend: Aber mein Mofa fährt 70! Und rennt aus der Gaststube. Der Hagner Erwin und der Seybold Harry, der Hobel, der blaue Klaus, der Semmler Peter, der Hofstätter Manne und noch ein paar, die hinten am Billard standen, alle rennen hinterher. Sogar Franz hört mit dem Abtrocknen der Warsteiner-Gläser auf, zuckt mit den Achseln und geht nach draußen. Dort haben sich inzwischen die Burschen im Halbrund neben der großen Birke aufgestellt. Am anderen Ende des Parkplatzes steht Marko in Position. Hobel schreit ihm zu: He, pass auf! Vor der Birke kommt ein Randstein!
Aber da hat der Schlund Marko das Zündapp-Mofa schon angekurbelt und den ersten Gang eingelegt. Zweiter Gang. Vollgas. Tränen laufen über sein Gesicht. Er wird es schaffen. An Susi denkt er nicht mehr. Ich werde es schaffen. Ich werde tot sein. Jawoll, im nächsten Moment werde ich tot sein.
Drüben sagt der Klaus Neller, der blaue Klaus, leise zu seinen Kumpeln: Kein Mensch kann sich mit einem Mofa totfahren, oder? Seybold Harry sagt laut: Das sehen wir jetzt gleich. Die anderen sagen nichts mehr.
Schlund rauscht näher. Das Vorderrad knallt gegen den Randstein. Im hohen Bogen fliegt er vom Mofa auf den Teer. Jetzt heult er, vor Schmerz und vor Wut, weil alle lachen. Und rennt mit gesenktem Kopf gegen den Baum. Einmal, zweimal, dreimal. Mittendrin in dem Spektakel rollt der Wiesner Michel auf dem Parkplatz, mit seinem Drei-Liter-Monza mit den 245er Rädern hinten dran und und 225ern vorne und fragt: Was ist denn hier los? Der Seybold Harry antwortet: Der Schlund bringt sich um. Da sagt der Wiesner: Jetzt ist aber Schluss, Schlund, sonst muss ich dir eine reinhauen.
Okay, sagt der.
Hobel drückt ihm ein Taschentuch auf seine Platzwunde. Alle gehen rein zum Flippern. Der Seybold Harry gibt dem Marko ein siebtes Pils aus, der kühlt seine aufgeschürften Handflächen am Bierglas und lächelt schon wieder. Der Wiesner Michel mit dem schwarzen Drei-Liter-Monza mit den 245er Rädern und dem John-Player-Specials-Aufkleber stellt am Pin-Bot mit über 13 Millionen einen neuen High-Score auf. Buck Rogers war trotzdem besser, meint er, während auf der Mattscheibe des Fernsehers die Klapperschlage sagt:
Mein Name ist Plissken.
Stachanow - 20. Mär, 12:40
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