Der Ort der Handlung ist autobiografisch. Und die Handlung selbst? Das ist mein erster Roman. Ich tue mir schwer mit der Fiktion. Ganz offensichtlich besitze ich nicht genügend Fantasie, um Geschichten zu erfinden, die auch nur im mindesten mit der Skurrilität der damals wirklich passierten Geschichten mithalten könnten. Die meisten Geschichten in diesem Buch sind passiert. Aber eben doch nicht ganz so, wie hier niedergeschrieben. Denn die Charaktere sind Fiktion. Ehrlich. Es hat keinen Zweck, mit diesem Buch die Käffer zwischen Ulm und Augsburg abzugrasen, um die Überlebenden zu finden oder die Toten auf den Friedhöfen. Wer aber über die Friedhöfe gehen will, sollte die Gräber derjenigen zählen, die Mitte der 60er geboren wurden und Mitte der 80er ihr Leben wieder ließen. Und wer das tut, der wird erkennen, dass ich in dem Buch nicht lüge.
Stachanow - 27. Mär, 17:35
Eine Dorfjugend, irgendwann Mitte der 80er Jahre, irgendwo im namenlosen Niemandsland zwischen Ulm und Augsburg. Es ist tatsächlich so. Die Landschaft dort hat keinen Namen. Mittelschwaben ist kein Name. Der Ort der Handlung ist autobiografisch. Aber es hätte genauso gut das Allgäu sein können oder Niederbayern oder ein Stück Unterfranken. Die Geschichten dieses Buches hätten in jedem Landstrich spielen können, der räumlich weiter als 30 Kilometer von einer Stadt entfernt ist und dadurch Lichtjahre im Geiste.
Das Leben der Burschen, die sich allabendlich im Kupferdächle treffen, kreist um Autos und Motorräder, Alkohol und Mädchen. Und um Freiheit.
Wobei Freiheit bloß ein anderer Name ist für Autos und Motorräder, Alkohol und Mädchen.
Stachanow - 27. Mär, 17:34
Das Leben steckt voller Gefahren.
Dessen wurde sich Semmler Peter urplötzlich bewusst, als er mit Carola in ihrem Zimmer saß und aus einem Tee-Service aus unglasierter Terrakotta Tee mit Wildkirscharoma eingeschenkt bekam. In der Ecke stand der Sony-Turm. Zuhause hatte er nur eine Kompaktanlage von Schneider, aber er hatte ihr eine Musik-Cassette aufgenommen und Carola spielte sie ab. Immer einen Song lang knutschen, dann einen Song lang Tee trinken und reden. Das waren die Regeln von Carola. Peter mochte Carola.
Richtig verliebt war er nicht. Oder doch. Nicht in Carola, sondern in Ulrike aus seinem Abiturjahrgang. Aber Ulrike ging erstens nicht ins Kupferdächle oder später ins Tropical Dream, sondern ins Pane e Vino und dann ins Blue Moon. Und zweitens ging sie mit Stefan Hochstädter. Mit dem gehörte sie zur Karottenjeans- und V-Pullunder-Fraktion, im Winter trugen die allesamt den Ski-Anorak von Salewa in Feuerrot, während Peter zur Jeans-Bundeswehrparka-mit-herausgetrenntem-Schwarz-Rot-Gold-Schildchen-Clique gehörte. Neben diesen zwei großen Gruppen gab es an der Schule etliche mit Stoffhosen. Die wurden von allen links liegen gelassen und gingen dafür geschlossen in den Arbeitskreis EDV und den Physik-LK und lachten über Scherze, über die sonst keiner lachte. Zuletzt waren in der Abiturklasse etliche blasse Mädchen mit selbergestrickten Pullis und guten Noten und dazu zwei, drei Punkies, die keiner verstand, weil die Jungs absichtlich schwächlich rüberkommen wollten. Und dann gab es seit der Elften noch Jörn. Sein Vater war als Offizier aus Norddeutschland hierher an den Standort gekommen, und aus Protest gegen seinen Alten war Jörn auf jedem Kirchentag und ging mit lila Halstuch, Kaftan und Fusselbart zur Schule. Jörn knutschte mit der Heide aus der Elften und war also trotz lila Halstuch nicht schwul.
Während Peter mit Carola knutschte, dachte er an Jörn und die anderen in der Schule. Das tat er, um sich abzulenken und eben nicht zu versuchen, an Carola herumzufingern. Vorschnelles Fingern führte in der Regel dazu, dass man erst beschimpft wurde, dann rausflog und zuletzt bei den Freundinnen angeschwärzt wurde. Das war das dümmste, was einem passieren konnte. Hatte man es sich mit drei, vier Mädchencliquen erst einmal verschissen, nahmen die Chancen, in der näheren Umgebung zum Stich zu kommen, rapide ab. Das wusste Peter bereits seit einigen Jahren. Dann also lieber noch einmal ein halbes Stündchen warten.
Das Band hatten sie schon dreimal umgedreht. Allmählich stieg in Peter ein neuer Wunsch auf. Der Wildkirschtee suchte Auslass. Aber wenn er jetzt aufstünde und fragte, wo das Klo ist – würde das nicht seine Chancen zunichte machen? Mädchen waren da manchmal komisch. Dann lieber nochmals an die Schule denken. Oder noch besser: an die Kumpels aus dem Kupferdächle. Beim Biertrinken am Baggersee veranstalteten sie regelmäßig ein Weitschiffen. Meist gewann Uwe.
Carola stand auf. Muss mal aufs Klo, flüsterte sie, küsste ihn aufs Ohrläppchen und huschte aus dem Jugendzimmer, in dem Peter jetzt die Blicke über Stofftiere und Schwarz-Weiß-Poster von Reifen tragenden Bodybuildern mit Schlonz im Haar schweifen ließ und mit seinem Harndrang kämpfte. Und seiner Wut.
Denn jetzt war es ganz aus. Er würde ihr sagen müssen, dass er auch schiffen müsste, würde aufs Klo gehen und dort ihren Furz aufatmen müssen. Sie würde sich schämen und nicht mit ihm schlafen. So würde es kommen.
Oder noch schlimmer. Es dauerte eine Weile, ehe er die Spülung rauschen hörte. Sie war also beim Scheißen gewesen. Nie und nimmer würde Carola heute mit ihrem frisch verschissenen Arsch mit ihm schlafen. Nie und nimmer. Und wenn heute nicht, dann nie mehr. Und es war wichtig, über den Winter ein Mädchen zu haben. Im Sommer ging das besser mit den Mädchen, aber im Winter war es fast aussichtslos, eine neue aufzureißen.
Als Carola wiederkam, rappelte Peter sich auf. Muss auch mal, murmelte er und stolperte dann ungeschickt aus der Tür in die Richtung, aus der er das Rauschen gehört hatte. Dort ließ er es laufen und schnupperte in die Luft. Wie können Mädchen geruchlos scheißen, fragte er sich. Mädchen sind wie Elfen. Sie riechen immer gut und können geruchlos scheißen. Er dagegen roch die Schärfe des Urins und seinen Schweiß. Obwohl er sich doch vorher eigens geduscht hatte. Ausgiebig wusch er sich wenigstens die Hände.
Als er zurückkam ins Jugendzimmer, hatte Carola eine neue Platte aufgelegt und lag jetzt halb zugedeckt auf dem Bett. Du warst lang aus, sagte sie und Peter versuchte einen Scherz, indem er sagte, dein Tee treibt schlimmer als fünf Halbe Weizenbier. Aber jetzt komm her, sagte sie. Peter erkannte auf einmal die Musik, Julia von Pavlov’s Dog. Fickmusik. Er wusste: Sie wollte jetzt ficken. Sie sagte: Ich habe meine Tage. Der Tampon ist schon raus, vorhin, auf dem Klo. Mach schnell, sonst saut das alles ein. Und Peter war sehr dankbar, als er erkannte, dass Frauen auch schlecht riechen können und so unkompliziert wie Kumpels sein. Beinahe wenigstens.
Stachanow - 27. Mär, 13:13